ETRO: KARNEVAL DER KULTUREN

Reisen, Geschichte und die Suche nach Schönheit. Auf diesen Leidenschaften baut ein Mailänder Geschwisterpaar internationalen Erfolg auf: Kean und Veronic Etro. Die Mode-Designer weben kosmopolitischen Lebensstil und folkloristische Extravaganz in exklusive Damen- und Herrenkleidung. Das Ergebnis sind Kreationen, die von einer aufregenden Familiengeschichte erzählen, von Ängsten und Triumphen.

Welcher Ort birgt den Ursprung aller Stoffmuster? Wie entsteht aus Traurigkeit ein fröhlicher Stil? Warum fotografiert eine junge Frau von früh bis spät einen Foxterrier und weshalb hämmert ihr Bruder bayerische Lederhosen an die Wand? Antworten auf diese und andere Fragen lassen sich in Mailand finden, dem Stammsitz von Etro.

Das familiengeführte Textilunternehmen gehört zu den dynamischsten seines Landes, gerade weil es kurzlebige Trends ablehnt. „Was heute hip ist, langweilt morgen. Unsere Mode soll zeitlos schön und ästhetisch sein“, sagt Veronica Etro. Die 28-Jährige entwirft die Damenkollektionen des Hauses, ihr zehn Jahre älterer Bruder Kean kümmert sich um die Herren. Gemeinsam kreieren sie Mode, die farbenfroh internationale Folklore zitiert, sich historischer Muster bedient und diese mit modernen Stilelementen mixt. „Wir nennen das new tradition“, fasst Veronica, eine bekennende Schuhsammlerin, die Firmenphilosophie zusammen.

Die textile Mischtechnik spiegelt ihre eigene Garderobe wider. Veronicas Lieblingsstück, eine Trachtenjacke aus Usbekistan, erstand sie auf dem Flohmarkt. Der taillierte Schnitt und die üppigen Verzierungen würden sie inspirieren, sagt Veronica Etro. Irgendwann, da ist sie sich sicher, wird sie die Jacke mit „Schätzen“ aus London, ihrer bevorzugten Shopping- Metropole, kombinieren. Oder mit einem Teil aus ihrer eigenen Etro-Kollektion.

Etro, das steht für kulturelle Verspieltheit, Detailfreude und den bewussten Stilbruch. Prominente Trendsetter, über deren Einkaufsgewohnheiten das Modehaus diskret schweigt, kombinieren die folkloristisch anmutenden Blusen mit Jeans oder konterkarieren die femininen Kleider mit derben Stiefeln. Männer peppen ihre dunklen Anzüge schon mal ganz gerne mit den farbenfrohen Streifen von Etro-Hemden auf.

Die bunten Kreationen haben ihren Ursprung in der Kindheit der beiden Modedesigner. Mit kunstbegeisterten Eltern bereisten sie Länder wie Indien und Pakistan, wo sie nach außergewöhnlichen Stoffen, Mustern und Farben suchten – und fündig wurden. Die Einkäufe dienten als Vorlage für die Stoffproduktion des Vaters. Schon damals band Gimmo den Nachwuchs in kreative Entscheidungsprozesse ein. „Welches Muster gefällt dir besser und warum?“ hat der Vater seine Kinder immer gefragt und sie damit früh an das Handwerk herangeführt.

Der Vater, ein eleganter Globetrotter, stellt seit 1968 Stoffe mit exotischen Paisley-Mustern nach historischem Vorbild her. Und die filigranen, orientalischen Motive aus verschnörkelten Ranken, Blüten und Blättern gehören noch immer zum Markenzeichen der Mailänder Firma. Abgewandelt tauchen die Muster gerade wieder in den aktuellen Kollektionen auf. Darüber hinaus zieren sie Kaffeetassen, Damentaschen, Krawatten und Röcke. Aus Gimmo Etros Textildruckerei entwickelte sich in gut drei Jahrzehnten ein Lifestyle- Unternehmen, das auch Wohnaccessoires und Düfte auf den Markt bringt – mit Läden in Mailand, Paris, London, New York und Tokio.

Bei aller Weitläufigkeit werden die Schlüsselpositionen praktisch nur von Familienmitgliedern besetzt: Sohn Ippolito kümmert sich um die Finanzen, Jacopo managt die Stoffproduktionen und die Heimtextilien, Kean und Veronica entwerfen die Kollektionen.

Zwei Persönlichkeiten, eine Handschrift. Denn neben der genetischen Verbindung stehen sich die Geschwister geistig sehr nahe – auch wenn sie nur wenige Arbeitsstunden in der Woche miteinander verbringen. „Oft entwickeln wir die gleichen Ideen für eine Kollektion, ohne darüber zu reden“, sagt Veronica und fügt hinzu: „Wir sind in der gleichen Welt groß geworden.“

Allerdings mit Unterbrechungen. „Mit drei Brüdern aufzuwachsen, bedeutete drei Zusatzväter zu haben“, sagt Veronica. Das war ihr zuviel, sie zog nach London, studierte Kunst und wollte Fotografin werden; bis vor fünf Jahren ihr Bruder Kean anrief und fragte, wann sie endlich in den Familienbetrieb einsteigen wolle.

Seitdem erregen die Geschwister gemeinsam die Aufmerksamkeit der Modewelt. Suzy Menkes, einflussreiche Modekritikerin bei der Herald Tribune, schwärmte schon vor Monaten von den „magischen Paisley-Mustern, den üppigen floralen Drucken und einem funky Downtown-Look“. Wahrscheinlich war es auch die unkonventionelle Inszenierung der Mode, welche die Zeitungsfrau so begeisterte.

Anstatt die Models über Laufstege flanieren zu lassen, organisierten die Designer eine Fashion- Parade durch Mailands Via Montenapoleone. Eine Band spielte, Kinder winkten und junge Männer fuhren auf Heuwagen sitzend in farbenfrohen Anzügen durch die Straße. Besonders die Herrenkollektion verdeutlichte: Die Zukunft ist bunt. Kean fütterte grüne Jacketts mit bunten Streifen, überzog klassische Schnitte mit Karos und kombinierte rot-blaue Pullunder zu mattgrünen Hosen. „Keans Mode ist fröhlich, aber nie komisch“, meinte ein Zuschauer.

Was aber macht das Design von Etro so besonders? Kean sagt: „Unser Design vereint Welten, indem es verschiedene Kulturen zitiert.“ Anders als die Konkurrenz, setzen die Mailänder bewusst auf Formen und Farben, um damit ganz bestimmte Stimmungen zu erzeugen. Wo Prada mit klaren Linien kühle Überlegenheit suggeriert, vermittelt Etro sinnliche Lebensfreude. Wo Armani mit dunklen Tönen auf Nummer Sicher geht, hält es Etro mit kräftigen Farben. Und wo Versace auf sexy Schnitte setzt, entwirft das Mailänder Geschwisterpaar Erotisches.

Viele der Ideen entstehen in Keans Büro, dort, wo seine zahlreichen Reisen beginnen und enden – die mentalen wie die physischen. Souvenirs zeugen davon. Das bedeutendste wacht über den Raum: ein verwittertes Stück Treibholz, befestigt an einem silbernen Lampengestell. Für den Designer symbolisiert es die Natur und ihre Vergänglichkeit. „Ich habe das Holz in einem Flussbett in der Nähe von Mailand gefunden, es sieht aus wie ein Gesicht.“

Über dem Holzstück schwebt ein asiatischer Drache, vor dem antiken Schreibtisch steht eine etwa 150 Jahre alte Balkonstütze, und an der Wand hängen bayerische Lederhosen. Sie lieferten die Vorlage für die aktuelle Taschenkollektion; zugleich erzählen sie von der Suche des Designers nach Ursprünglichem und Traditionellem. Während es dem Vater auf seinen Reisen um die Schönheit ging, interessiert sich der Sohn für ihre Grundlagen.

Dabei lässt er keinen Lebensbereich aus. Egal, ob es sich um Mode, Religion oder Design handelt, Kean ist fasziniert, dass ihn seine Forschungen immer an ein und denselben Ort führen: in die Natur. „Dort liegt der Ursprung von Allem.“ Als Beispiel nennt er das berühmte Paisley-Muster. Die filigranen Schwünge, deren Grundstruktur bestimmten Blätterformen nachempfunden wurde, entwickelten Inder. „Fast die gleichen Muster findet man auch in Neuseeland. Und warum? Weil dort ähnliche Pflanzen wachsen“, sagt Kean, den Wissensdurst und Neugierde durchs Leben und immer wieder in Bibliotheken treiben.

Zum Beispiel in die firmeneigene in der Via Spartaco, nur wenige Zimmer von seinem Büro entfernt. Dort stehen mehr als 3.000 antike Bände über Kunst, Folklore und Design. Firmengründer Gimmo hat sie von seinen Reisen mitgebracht, jetzt ist es an dem Sohn, die Sammlung zu pflegen und auszubauen. „Er liebt Bücher“, sagt Veronica über ihren Bruder, „er liest anders als andere.“ „Vielleicht bin ich einfach nur faul“, sagt Kean und erklärt seine Art, sich Wissen anzueignen.

Sein Ansatz ist weniger ein intellektueller als vielmehr ein spiritueller. „Nicht selten vergesse ich Theorie und Details, aber ich behalte immer den Spirit, das Gefühl.“ So sind es emotionale Erkenntnisse, die ihn inspirieren. Kean sucht den Zugang zur Seele der Welt. Er will fühlen, was im Verborgenen liegt, etwa, „wie ein Baum die Jahreszeiten erlebt, wie er den Wind fühlt, der seine Blätter streichelt“.

Veronica hingegen hat eher die Oberfläche selbst im Blick: Landschaften, Menschen, Tiere – und vernachlässigte Objekte. Momentan verfolgt sie ihren Foxterrier von früh bis spät mit der Kamera. In Bildern will sie seinen Tageslauf festhalten. Sie fotografiert leidenschaftlich, bevorzugt in Schwarz- Weiß. „Das Spiel von Hell und Dunkel lässt Objekte zu Skulpturen werden, dadurch gewinnen sie an Wert und Schönheit.“

Schönheit, ein Leitmotiv der schöpferischen Familie. Während Kean und Veronica die nächste Kollektion planen, flüstert in der eleganten Mailänder Etro-Boutique ein charmanter Italiener seiner Frau zu: „Schönheit lässt keine Fragen offen“ und hält ihr eine Bluse mit folkloristischen Stickereien entgegen.