 |
Interview ERIKA THIMEL
Fotos MICHAEL DANNER
erschienen in PREMIUM
(int. Kundenmagazin von Jaguar,
Aston Martin, Land Rover und Volvo) |
|
 |
ETRO: KARNEVAL DER KULTUREN
Reisen, Geschichte und die Suche nach Schönheit. Auf diesen Leidenschaften baut ein Mailänder Geschwisterpaar internationalen Erfolg auf: Kean und Veronic Etro. Die Mode-Designer weben kosmopolitischen Lebensstil und folkloristische Extravaganz in exklusive Damen- und Herrenkleidung. Das Ergebnis sind Kreationen, die von einer aufregenden Familiengeschichte erzählen, von Ängsten und Triumphen.
Welcher Ort birgt den Ursprung
aller Stoffmuster?
Wie entsteht aus Traurigkeit ein
fröhlicher Stil? Warum fotografiert
eine junge Frau von früh bis
spät einen Foxterrier und weshalb
hämmert ihr Bruder bayerische
Lederhosen an die Wand? Antworten
auf diese und andere Fragen
lassen sich in Mailand finden,
dem Stammsitz von Etro.
Das familiengeführte Textilunternehmen
gehört zu den dynamischsten
seines Landes, gerade
weil es kurzlebige Trends ablehnt.
„Was heute hip ist, langweilt morgen.
Unsere Mode soll zeitlos
schön und ästhetisch sein“, sagt
Veronica Etro. Die 28-Jährige entwirft
die Damenkollektionen des
Hauses, ihr zehn Jahre älterer
Bruder Kean kümmert sich um
die Herren. Gemeinsam kreieren
sie Mode, die farbenfroh internationale
Folklore zitiert, sich historischer
Muster bedient und diese
mit modernen Stilelementen
mixt. „Wir nennen das new tradition“,
fasst Veronica, eine bekennende
Schuhsammlerin, die Firmenphilosophie
zusammen.
Die textile Mischtechnik spiegelt
ihre eigene Garderobe wider.
Veronicas Lieblingsstück, eine
Trachtenjacke aus Usbekistan, erstand
sie auf dem Flohmarkt. Der
taillierte Schnitt und die üppigen
Verzierungen würden sie inspirieren,
sagt Veronica Etro. Irgendwann,
da ist sie sich sicher, wird
sie die Jacke mit „Schätzen“ aus
London, ihrer bevorzugten Shopping-
Metropole, kombinieren.
Oder mit einem Teil aus ihrer
eigenen Etro-Kollektion.
Etro, das steht für kulturelle Verspieltheit,
Detailfreude und den
bewussten Stilbruch. Prominente
Trendsetter, über deren Einkaufsgewohnheiten
das Modehaus diskret
schweigt, kombinieren die
folkloristisch anmutenden Blusen
mit Jeans oder konterkarieren die
femininen Kleider mit derben
Stiefeln. Männer peppen ihre
dunklen Anzüge schon mal ganz
gerne mit den farbenfrohen Streifen
von Etro-Hemden auf.
Die bunten Kreationen haben
ihren Ursprung in der Kindheit
der beiden Modedesigner. Mit
kunstbegeisterten Eltern bereisten
sie Länder wie Indien und Pakistan,
wo sie nach außergewöhnlichen
Stoffen, Mustern und Farben
suchten – und fündig wurden.
Die Einkäufe dienten als Vorlage
für die Stoffproduktion des Vaters.
Schon damals band Gimmo
den Nachwuchs in kreative Entscheidungsprozesse
ein. „Welches
Muster gefällt dir besser und warum?“
hat der Vater seine Kinder
immer gefragt und sie damit früh
an das Handwerk herangeführt.
Der Vater, ein eleganter Globetrotter,
stellt seit 1968 Stoffe mit
exotischen Paisley-Mustern nach
historischem Vorbild her. Und die
filigranen, orientalischen Motive
aus verschnörkelten Ranken, Blüten
und Blättern gehören noch
immer zum Markenzeichen der
Mailänder Firma. Abgewandelt
tauchen die Muster gerade wieder
in den aktuellen Kollektionen auf.
Darüber hinaus zieren sie Kaffeetassen,
Damentaschen, Krawatten
und Röcke. Aus Gimmo Etros
Textildruckerei entwickelte sich
in gut drei Jahrzehnten ein Lifestyle-
Unternehmen, das auch
Wohnaccessoires und Düfte auf
den Markt bringt – mit Läden in
Mailand, Paris, London, New
York und Tokio.
Bei aller Weitläufigkeit werden
die Schlüsselpositionen praktisch
nur von Familienmitgliedern besetzt:
Sohn Ippolito kümmert sich
um die Finanzen, Jacopo managt
die Stoffproduktionen und die
Heimtextilien, Kean und Veronica
entwerfen die Kollektionen.
Zwei Persönlichkeiten, eine
Handschrift. Denn neben der genetischen
Verbindung stehen sich
die Geschwister geistig sehr nahe
– auch wenn sie nur wenige Arbeitsstunden
in der Woche miteinander
verbringen. „Oft entwickeln
wir die gleichen Ideen für
eine Kollektion, ohne darüber zu
reden“, sagt Veronica und fügt
hinzu: „Wir sind in der gleichen
Welt groß geworden.“
Allerdings mit Unterbrechungen.
„Mit drei Brüdern aufzuwachsen,
bedeutete drei Zusatzväter
zu haben“, sagt Veronica. Das
war ihr zuviel, sie zog nach London,
studierte Kunst und wollte
Fotografin werden; bis vor fünf
Jahren ihr Bruder Kean anrief und
fragte, wann sie endlich in den Familienbetrieb
einsteigen wolle.
Seitdem erregen die Geschwister
gemeinsam die Aufmerksamkeit
der Modewelt. Suzy Menkes,
einflussreiche Modekritikerin bei
der Herald Tribune, schwärmte
schon vor Monaten von den „magischen
Paisley-Mustern, den üppigen
floralen Drucken und einem
funky Downtown-Look“. Wahrscheinlich
war es auch die unkonventionelle
Inszenierung der Mode,
welche die Zeitungsfrau so begeisterte.
Anstatt die Models über Laufstege
flanieren zu lassen, organisierten
die Designer eine Fashion-
Parade durch Mailands Via Montenapoleone.
Eine Band spielte,
Kinder winkten und junge Männer
fuhren auf Heuwagen sitzend
in farbenfrohen Anzügen durch
die Straße. Besonders die Herrenkollektion
verdeutlichte: Die Zukunft
ist bunt. Kean fütterte grüne
Jacketts mit bunten Streifen,
überzog klassische Schnitte mit
Karos und kombinierte rot-blaue
Pullunder zu mattgrünen Hosen.
„Keans Mode ist fröhlich, aber nie
komisch“, meinte ein Zuschauer.
Was aber macht das Design
von Etro so besonders?
Kean sagt: „Unser Design vereint
Welten, indem es verschiedene
Kulturen zitiert.“ Anders als die
Konkurrenz, setzen die Mailänder
bewusst auf Formen und Farben,
um damit ganz bestimmte
Stimmungen zu erzeugen. Wo
Prada mit klaren Linien kühle
Überlegenheit suggeriert, vermittelt
Etro sinnliche Lebensfreude.
Wo Armani mit dunklen Tönen
auf Nummer Sicher geht, hält
es Etro mit kräftigen Farben. Und
wo Versace auf sexy Schnitte
setzt, entwirft das Mailänder Geschwisterpaar
Erotisches.
Viele der Ideen entstehen in
Keans Büro, dort, wo seine zahlreichen
Reisen beginnen und enden
– die mentalen wie die physischen.
Souvenirs zeugen davon.
Das bedeutendste wacht über den
Raum: ein verwittertes Stück
Treibholz, befestigt an einem silbernen
Lampengestell. Für den
Designer symbolisiert es die Natur
und ihre Vergänglichkeit. „Ich
habe das Holz in einem Flussbett
in der Nähe von Mailand gefunden,
es sieht aus wie ein Gesicht.“
Über dem Holzstück schwebt
ein asiatischer Drache, vor dem
antiken Schreibtisch steht eine etwa
150 Jahre alte Balkonstütze,
und an der Wand hängen bayerische
Lederhosen. Sie lieferten die
Vorlage für die aktuelle Taschenkollektion;
zugleich erzählen sie
von der Suche des Designers nach
Ursprünglichem und Traditionellem.
Während es dem Vater auf
seinen Reisen um die Schönheit
ging, interessiert sich der Sohn
für ihre Grundlagen.
Dabei lässt er keinen Lebensbereich
aus. Egal, ob es sich um Mode,
Religion oder Design handelt,
Kean ist fasziniert, dass ihn seine
Forschungen immer an ein und
denselben Ort führen: in die Natur.
„Dort liegt der Ursprung von
Allem.“ Als Beispiel nennt er das
berühmte Paisley-Muster. Die filigranen
Schwünge, deren Grundstruktur
bestimmten Blätterformen
nachempfunden wurde, entwickelten
Inder. „Fast die gleichen
Muster findet man auch in Neuseeland.
Und warum? Weil dort
ähnliche Pflanzen wachsen“, sagt
Kean, den Wissensdurst und Neugierde
durchs Leben und immer
wieder in Bibliotheken treiben.
Zum Beispiel in die firmeneigene
in der Via Spartaco,
nur wenige Zimmer von seinem
Büro entfernt. Dort stehen mehr
als 3.000 antike Bände über Kunst,
Folklore und Design. Firmengründer
Gimmo hat sie von seinen Reisen
mitgebracht, jetzt ist es an dem
Sohn, die Sammlung zu pflegen
und auszubauen. „Er liebt Bücher“,
sagt Veronica über ihren Bruder,
„er liest anders als andere.“ „Vielleicht
bin ich einfach nur faul“, sagt
Kean und erklärt seine Art, sich
Wissen anzueignen.
Sein Ansatz ist weniger ein intellektueller
als vielmehr ein spiritueller.
„Nicht selten vergesse ich
Theorie und Details, aber ich behalte
immer den Spirit, das Gefühl.“
So sind es emotionale Erkenntnisse,
die ihn inspirieren.
Kean sucht den Zugang zur Seele
der Welt. Er will fühlen, was im
Verborgenen liegt, etwa, „wie ein
Baum die Jahreszeiten erlebt, wie
er den Wind fühlt, der seine Blätter
streichelt“.
Veronica hingegen hat eher die
Oberfläche selbst im Blick: Landschaften,
Menschen, Tiere – und
vernachlässigte Objekte. Momentan
verfolgt sie ihren Foxterrier
von früh bis spät mit der Kamera.
In Bildern will sie seinen Tageslauf
festhalten. Sie fotografiert leidenschaftlich,
bevorzugt in Schwarz-
Weiß. „Das Spiel von Hell und
Dunkel lässt Objekte zu Skulpturen
werden, dadurch gewinnen sie
an Wert und Schönheit.“
Schönheit, ein Leitmotiv der
schöpferischen Familie. Während
Kean und Veronica die nächste
Kollektion planen, flüstert in der
eleganten Mailänder Etro-Boutique
ein charmanter Italiener seiner
Frau zu: „Schönheit lässt keine
Fragen offen“ und hält ihr eine
Bluse mit folkloristischen Stickereien
entgegen.
|
|