WER LIEBT, WILL DAFÜR NICHTS

Wim Wenders hält Gott für wirklicher als die Welt und sich selbst für einen verkannten Komiker oder einen müden Reisenden. Der Filmregisseur erzählt, was er von der Liebe weiß und was er von seinen Schauspielern erwartet.

Warum ich drei Ringe trage? Weil sie mir alle drei viel bedeuten. Diesen Siegelring mit dem Familienwappen habe ich von meinem Vater bekommen, der ihn wiederum von seinem Vater hat. Der Ring ist durch viele Generationen gegangen, ich trage ihn seit über 20 Jahren. Meinen Ehering trage ich im neunten Jahr. Mein dritter Ring ist ein traditioneller irischer Freundschaftsring: Ein Herz mit einer Krone darauf, von zwei Händen gehalten – ein Geschenk von Bono. Meine Frau trägt die gleichen drei Ringe, ein paar Nummern kleiner. Nur dass sie ihre noch abstreifen kann. Meine krieg’ ich praktisch nicht mehr ab. Zumindest hab’ ich es seit Jahren nicht mehr versucht. Mit Geduld und Spucke ginge es vielleicht noch.

Das Herz mit der Krone, der irische Ring, fällt den Leuten am stärksten auf. Was ihnen sonst noch an mir auffällt? Ich weiß nicht so recht. Oft sind sie erstaunt, dass ich nicht ein viel älterer Mann bin, mindestens achtzig Jahre, weil ich schon so viele Filme gedreht habe, immerhin seit dem Ende der Sechziger Jahre, also seit grauer Vorzeit. Zudem vermuten viele, ich sei ein Intellektueller. Ein Dichter und Denker. Letztendlich erwarten die Leute, dass ich den Eindruck bestätige, den sie irgendwie von meinen Filmen bekommen haben. Oder von einem Fernsehinterview. Oder vom Hörensagen. Aber selten stimmt der Eindruck, den man von einer öffentlichen Person hat, dann wirklich mit dem Menschen überein, wenn man ihn mal vor sich hat. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich einen verkannten Komiker. Oder einen müden Reisenden. Ich bin ja viel unterwegs, die meisten Spiegel, in die ich schaue, gehören zu Hotels, in Flugzeuge oder in Autos.

In meinen Filmen wird viel gereist. Nicht immer, aber oft. Ich erzähle Geschichten von Menschen, die auf der Suche sind, und ich erzähle Liebesgeschichten. Ich erzähle von Menschen, die herausfinden wollen, wie das geht: Lieben. Ob ich es selbst weiß? Für lange Zeit war die Liebe für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Inzwischen – auch wenn das furchtbar überheblich klingen mag – habe ich ein paar Seiten des Buches entziffern können. Meine Filme haben mir sehr geholfen, einigen Geheimnissen näher zu kommen. Man kann beim Filmemachen viel lernen. Vor allem, wenn die Geschichten, die man erzählt – und darauf habe ich immer bestanden – auf eigenen Erfahrungen beruhen.

Was ich über die Liebe weiß? Liebe ist kein Gegengeschäft. Wer für seine Liebe etwas zurückhaben will, macht schon im Ansatz alles falsch. Die Liebe ist per Definition vorbehaltlos.

Ich bin seit neun Jahren verheiratet, mit Donata. In ihr habe ich die Liebe meines Lebens gefunden, und umgekehrt sie auch. Daran haben wir beide nie eine Sekunde gezweifelt. Nur wussten wir es nicht auf den ersten Blick. Wir haben uns ein halbes Jahr lang fast täglich gesehen, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, was aus uns werden würde. Donata hat bei meinem Film „In weiter Ferne so nah“ (der richtige Titel für unsere Geschichte...) als Kamera-Assistentin mitgearbeitet. Nichts war, die ganze Zeit über, auch nicht ein Anflug irgendeiner Erkenntnis oder einer Verliebtheit. Erst am letzten Drehtag merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Während ich mich nämlich eigentlich immer freue, wenn Dreharbeiten zu Ende gehen, war ich in diesem Fall unendlich traurig und wusste überhaupt nicht, warum. Dann ist mir plötzlich der Grund klargeworden: Ich würde Donata nicht wiedersehen! Da ist es mir dann gedämmert. Ich habe all meinen Mut zusammengenommen und sie zum Essen eingeladen.

Das Aufregendste an der Liebe ist, dass sie sich verändert, dass sie wachsen kann. Auch wenn man denkt, mehr geht gar nicht. Gerade dann kann man sich auf einiges gefasst machen. Liebe ist eine ständige Herausforderung, offen zu sein und sich gegenseitig zu trauen – immer mehr. Viele Lieben enthalten sich von vorneherein dieser Möglichkeit, legen sich Beschränkungen auf, verzichten darauf, rückhaltlos zu sein. Auch das habe ich erlebt. Weil es Menschen oft wichtiger ist, was andere von ihnen denken, als was sie selbst von sich halten, handeln ihre Liebesbeziehungen vor allem von der Selbstdarstellung dieser Liebe nach außen.

Die Liebe ist das größte Abenteuer des Lebens. Aber auch älter zu werden und Erfahrungen zu sammeln, ist abenteuerlich. Wie soll man damit umgehen, dass man Sachen nicht zum erstenmal macht? Es ist gar nicht so einfach, auf der einen Seite dieselben Fehler nicht zu wiederholen, und sich auf der anderen Seite nicht bloß auf Erfahrungen zu verlassen. Das ist nämlich die größere Gefahr. Man sagt zum Beispiel, der erste Film sei ganz einfach, der zweite sei der Schwierigste. Das stimmt, ich kann es bezeugen. Beim ersten Mal kann man alles neu erfinden, für sich selbst. Beim zweiten Mal verlässt man sich darauf, dass man jetzt etwas weiß und fällt auf die Schnauze. Ich versuche deshalb immer wieder, einen ersten Film zu machen und mich dabei trotzdem nicht zu wiederholen. Ich finde, das ist die richtige Art, mit Erfahrungen umzugehen: Neugierig auf das zu sein, was man noch nicht gemacht hat.

Jetzt bin ich neugierig auf meinen nächsten Film. Die Dreharbeiten beginnen gerade, nachdem ich die vergangenen 18 Monate mit Sam Shepard am Drehbuch geschrieben habe. Es wird ein Road Movie und eine amerikanische Familiengeschichte. Arbeitstitel: „In Amerika“.

Bislang habe ich das Gefühl, vieles nur angekratzt zu haben. Meine Filme waren bisher immer sehr kontrolliert. Mit „The Million Dollar Hotel“ habe ich mich erstmals in einen Bereich vorgewagt, in dem man die Geschichte einer bedingungslosen Liebe überhaupt erst erzählen kann. Ich fange sozusagen erst damit an, meiner Phantasie unzensiert und bedingungslos freien Lauf zu lassen.

Kreativität ist ein einziges großes Wagnis. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, heißt es ja. Eigentlich Käse, dieser Spruch. Die viel traurigere Wahrheit ist nämlich: Wer nicht wagt, der auf jeden Fall verliert. Den meisten Menschen ist diese Fähigkeit zum Wagnis ausgetrieben worden. Fast ein jeder besitzt von Geburt an die Gabe zu erzählen, Musik zu machen oder zu malen. Wie oft werden diese Fähigkeiten aber im Keim erstickt. Wie vielen Kindern wird nicht sehr früh jeder Mut genommen, erfinderisch, großartig, einmalig sein zu dürfen. Wie viele Schulen machen es sich nicht geradezu zur Aufgabe, jede Anwandlung von Kühnheit abzustrafen und die Gegenlektion einzubläuen, nämlich Konformität.

Dazu kommt zunehmend, wie sehr wir uns alle, und mit uns die Kinder, damit abfinden, zu rezipieren und uns bedienen zu lassen. Das Überangebot ist die Regel geworden und daraus resultiert Passivität. Das ist im Regelfall die notwendige kulturelle Folge dieser Konsumhaltung. Das kreative Potenzial wird abgebaut, weil es immer weniger eingefordert wird. Die Aufforderungen, Erfahrungen selber zu machen, werden immer schwächer. Erfahrungen aus zweiter oder dritter Hand als die eigenen anzunehmen, das ist doch unser tägliches Brot geworden. Aber Kreativität ist das Gegenteil von Rezeption.

Von meinen Schauspielern erwarte ich, dass sie bereit sind, sich ganz zu öffnen, sich erkennen zu lassen und damit ganz viel von sich selbst in den Film einzubringen. Schauspieler, die sich hinter einer Rolle verstecken wollen und sich dabei ausschließlich auf ihre handwerklichen Mittel verlassen, interessieren mich nicht. Für mich muss hinter einer Rolle die Wahrheit des Menschens stehen, der sie ausfüllt. Mich interessiert dieser Mensch mehr als die Rolle, die er spielen soll. Das heißt natürlich nicht, dass Schauspieler sich in meinen Filmen nur selbst spielen können. Sie können sich selbst übertreffen, indem sie sich weit über ihre eigenen Möglichkeiten hinauserfinden. Doch gleichzeitig kann keiner etwas spielen, finde ich, was er nicht latent in sich trägt. Die Frage ist nur, ob er oder sie den Mut und die Großzügigkeit haben, es herauszulassen. Als Regisseur ist man darauf angewiesen, beschenkt zu werden. Man kann nicht alles aus sich heraus „schöpfen“, im doppelten Sinne des Wortes.

Viele Filme heute sind in sich geschlossene Systeme. Sie genügen sich selbst und als Zuschauer kommst du ärmer heraus als du reingegangen bist. Das war im Kino einmal anders. Aber das Schenken ist in unserem Konsumzeitalter ziemlich out. Heute werden die meisten Filme nach anderen Kriterien hergestellt, nach vorgegebenen Mustern und Rezepten. Aber es gibt immer wieder Ausnahmen. Bei Filmen wie „Dancer in the Dark“ oder „Breaking the Silence“, nur um überhaupt zwei zu nennen, da tankt man für Wochen oder gar Monate auf: positive Energie, Lebensfreude und die Zuversicht, dass das Leben einen Sinn hat, dass Menschen ihr Schicksal in der Hand haben, dass Veränderungen möglich sind. Diese Gefühle kommen oft erst im nachhinein. Gute Filme gehen weiter, ja, fangen oft erst richtig an, wenn man aus dem Kino rauskommt.

Ich bin Christ, aber habe zu meinem Glauben erst über lange Umwege gefunden. Aufgewachsen bin ich zwar in einem katholischen Elternhaus und habe deswegen auch eine sehr behütete Kindheit gehabt, aber den dann folgenden Anstürmen ist diese katholische Erziehung nicht gewachsen gewesen. Ich fand alles formalisiert, dogmatisiert, ungelebt, unerfüllt. Die Kirche, so schien mir, war pharisäerhaft, selbstgerecht und hielt sich selbst für die Message, hatte dabei ihre wirklich Botschaft längst vergessen.

Und so habe ich mich dann mehrfach überrollen lassen. Erst von der existentialistischen Philosophie, dann von linker politischer Betätigung Ende der sechziger Jahre, dann von Drogenerfahrungen und der Psychoanalyse in den siebziger Jahren, schließlich von der Beschäftigung mit östlichen Religionen in den Achtzigern. Erst nach all den Ismen und Irr- und Umwegen bin ich auf das gestoßen, was ich zwischendurch am weitesten hinter mir gelassen zu haben glaubte. Und all das, was ich bislang überall vergeblich gesucht hatte, da lag es auf einmal auf der Hand. Die katholische Erziehung hatte es mir nur so schwer gemacht, es zu verstehen: Christ zu sein.

Heute kann ich sowohl einen katholischen wie einen evangelischen Gottesdienst besuchen, bin aber durch die lebendige presbyterianische Gemeinde, der meine Frau und ich in Los Angeles angehören, der protestantischen Kirche wesentlich näher. Im Kern geht es letztendlich nur darum: Das Christentum enthält eine absolut revolutionäre, befreiende und lebensbejahende Botschaft. Dass Gott wirklicher ist als die Welt. Dass alles Leben und Sein von ihm kommt. Und dass er uns liebt. Dass es deswegen unsere große, wenn nicht einzige Aufgabe ist, seine Liebe anzunehmen. Und weiterzugeben.