VOLLENDETE TATSACHEN

Wenn Ross Lovegrove etwas nicht mag, sind es gerade Linien. Das Vorbild des britischen Produktdesigners ist die Natur. Mit avantgardistischen Entwürfen stimuliert er nicht nur die Sinne seiner Kunden. Auf den unverwechselbaren Stil des heimlichen Stars der Design-Szene trifft man über den Wolken genauso wie bei den Gütern des täglichen Bedarfs.

Fast überall das gleiche Bild: leicht geöffnete Lippen, entspannte Gesichtszüge, geschlossene Augen. Die Passagiere, die mit Japan Airlines erster Klasse von London nach Tokio fliegen, haben sich in ihre Sessel geschmiegt und schlafen, schließlich ist es mitten in der Nacht. Doch einen ficht das nicht an. Ross Lovegrove, gefeierter Produktdesigner aus Großbritannien, lässt sich weder von seinem Biorhythmus übermannen noch von den organisch geformten Sitzen, von denen es heißt, sie seien die bequemsten der Welt.

Lovegrove hat Kopfhörer auf und lauscht der Musik von Madonna. Erst beginnt sein Kopf zu wippen, dann fangen die Schultern an zu kreisen, irgendwann ist der ganze Körper in Bewegung. „Nothing takes the past away like the future“, singt Madonna, wie Lovegrove am gleichen Tag vor 44 Jahren geboren. Die Textpassage gefällt dem gebürtigen Waliser, er holt eine braune Kladde hervor, die ihm als Tagebuch und Skizzensammlung dient und notiert den Satz der Popsängerin: „…like the future“.

Zwischen dem ledernen Einband nimmt die Zukunft ihren Lauf. Vom Haus übers Auto bis hin zum Besteck markieren farbige Striche neue Produktideen, die – frei von Ecken und Kanten – aufs Wesentliche reduziert sind. „Fettfreies Design“ nennt der Herausgeber des Internationalen Design-Jahrbuchs 2002/2003 das, wofür ihn Unternehmen wie Apple, Tag Heuer, Philips, Mazda oder Olympus schätzen und was Museen in New York, Paris und London ständig ausstellen.

Der Sohn eines Marineoffiziers kann mit geraden Linien nichts anfangen. Stattdessen schwört er auf schwungvolle Bögen und organische Formen. Sie sollen optisch mit ihrer Umgebung verschmelzen, um wie ein Teil der Evolution zu wirken. „Mein Vorbild ist die Natur und ihre Symbiosen“, sagt Lovegrove. Seine Entwürfe lassen sich auf die Formel „Struktur plus Schönheit“ bringen. Zum Minimalisten macht ihn das noch lange nicht, wohl aber zum Perfektionisten: sich selbst und seinen Mitarbeitern gegenüber, denen er in seinem Londoner „Studio X“ intelligenten Materialeinsatz und perfekte Strukturen einbläut.

Auf diese Säulen baut auch Lovegroves neue Studiotreppe auf, die eine Wirbelsäule zum Vorbild hat und damit dem Werk des spanischen Architektur-Genies Antonio Gaudí ähnelt. „Aus einer absoluten Verbundenheit mit dem eigenen Kern und der Umwelt entsteht Schönheit.“ Das gelte für Produkte und Menschen. Lovegrove bezeichnet sich als spirituellen Designer. „Die Welt wird sich verbessern. Unsere Produkte, unsere Luft, unsere Politik. Wir leben in einem Zeitalter, in dem sich mit Vernunft mehr Geld verdienen lässt als mit Dummheit.“ Dazu wolle er beitragen.

Der Designer träumt davon, ein ökologisches Auto zu entwickeln, das sich in die Architektur einer Stadt fügt. „Das Auto braucht einen radikal neuen Denkansatz“, fordert er und denkt dabei an ein umweltfreundliches, motorisiertes und transparentes Ei. Lovegrove outet sich gleichzeitig als leidenschaftlicher Aston-Martin-Liebhaber. „Ich wollte schon immer einen DB5 aus den sechziger Jahren haben, silbern und mit Ledersitzen . . .“ Er stockt und fügt dann lächelnd hinzu: „ . . . aber mit einem umweltschonenden Wasserstoffmotor.“ Ein japanischer Journalist habe ihn daraufhin gefragt: „Und wo bleibt der unvergleichliche Sound des Aston Martin?“ Lovegrove entgegnete: „Das Geräusch können Sie auf CD haben, wenn Sie Frauen beeindrucken wollen.“ Lovegrove hat derlei Imponiergehabe nicht nötig. Bei ihm reicht ein Fahrrad, um andere in Wallung zu bringen. So geschehen bei einem Modell aus Metall und Bambus, das er für Biomega entworfen hat. Der Modestar Kenzo war hin und weg von dem Gefährt und lud Lovegrove zum Dinner in seine Pariser Stadtresidenz, deren Einrichtung komplett aus Bambus ist.

Bei der Umsetzung seiner umweltfreundlichen Luxus-Visionen greift Lovegrove auf ein umfangreiches Know-how zurück. Bereits während der Ausbildung am Manchester Polytechnikum erwarb er sich den Ruf eines Maniacs. Morgens kam er als Erster, abends ging er als Letzter. So hielt er es auch während der Lehrzeit am Royal College of Art in London. Dort fiel dann der Entschluss zu einer Karriere als Industriedesigner. Sein erstes Designerstück, eine Windmühle, entwarf er mit 16.

Heute ist er weltweit tätig. „Ich verbringe mein Leben in Flugzeugen und ich liebe es, Flugzeuge zu gestalten“, erzählt der Formenkünstler. Erst kürzlich hielt er auf Einladung von Airbus einen Vortrag. Auf dem Weg zurück zum Flughafen verfolgte ihn ein Manager, der seine Visitenkarte loswerden wollte. Ohne Erfolg, Ross war in Eile. „Er kommt wieder auf mich zu“, weiß der Designer.

Einer wie er ruft nicht, er wird gerufen. Existenzängste sind ihm fremd. Selbst in seinen Anfangsjahren, als er noch in einem rostigen Fiat durch Paris kreuzte und in einem Zimmer in Bahnhofsnähe schlief, trieb ihn die Zuversicht. Er sprach zwar kein Wort Französisch und hatte einen gutbezahlten Job bei Frog Design aufgegeben, aber er behielt den Glauben an sich und seine Arbeit. „Ich stecke immer meine ganze Energie in die Dinge, die ich tue und versuche dabei, die Grenzen des Möglichen zu durchbrechen.“ Aufträge, die ihn nicht herausfordern, lehnt er ab. „Ich entwerfe nur etwas, wenn ich eine Idee habe, die mir gefällt. Aus diesem Grund bin ich berühmt geworden und die Menschen lieben mich.“

Selbst die Kinder. Die Spielkameraden seines zehnjährigen Sohnes kommen gerne ins Haus im Londoner Stadtteil Notting Hill, wo Flugzeugmodelle, bunte Formen und afrikanische Kunst das Ambiente bestimmen. „Oh,
Mr. Lovegrove“, fragen die Kleinen, „können wir ein Auto entwerfen?“ „Was wollt ihr?“ fragt der Hausherr zurück. „Na, zum Beispiel ein Auto mit nur einem Reifen!“ Der Designer zückt den Stift und zeigt: Papier ist geduldig.

Da ist es wieder, das ledergebundene Skizzenbuch, das er immer griffbereit hat. Denn Lovegrove fühlt sich nirgendwo verwurzelt. „Meine Wurzeln sind in der Luft.“ Ihr Nährboden ist das Papier. Es hält fest, was die Ideenfabrik hinter Lovegroves Stirn produziert. Nicht selten füllen sich die Seiten zwischen den Buchdeckeln auch mit Gedichten.

Welche Situation oder Begegnung zuletzt den Puls der Poesie in seinem Herzen beschleunigt hat? „Das erzähle ich nicht, nicht einmal meiner Frau.“ Und mit ihr, der polnischen Architektin Miska Miller, ist er seit bald 15 Jahren verheiratet. „Sie denkt in geraden Linien, ich nicht. Wir streiten uns deshalb oft schrecklich“, sagt er und lacht. Seine Frau sitzt in der Nähe und lacht mit. „Sie hat diese großartige weibliche Intuition“, schwärmt Lovegrove. Auf der Mailänder Möbelmesse feierten sie in diesem Jahr gemeinsam seine Erfolge.

Gibt es auch etwas, über das er sich ärgert? „Alexander McQueen verdient ein paar Millionen Pfund im Jahr, um Mode zu entwerfen, die niemand tragen kann“, sagt Lovegrove. Man solle ihn bitte nicht missverstehen: „McQueen ist genial. Ich liebe seine Arbeit, aber wenn sie mir so viel Geld geben würden, könnte ich fantastische Dinge entwerfen.“ Es gehe schließlich darum zu geben, zu teilen und anderen Menschen zu helfen, sagt Lovegrove und: „Es geht um Fürsorge und um Liebe.“ Auch um Detailliebe.

Für die Schweizer Uhrenfirma Tag Heuer entwarf er eine Kollektion Sportbrillen. Um die perfekte Passform zu erzielen, brachte Lovegrove allein sechs Monate mit dem Studium der unterschiedlichen Physiognomien zu, schließlich soll sich die Brille in 172 Ländern verkaufen. Nach drei Jahren war das Projekt vollendet. Die Modelle strotzen nur so vor raffinierten Details und wurden im vergangenen Jahr mit Gold prämiert.

Ein anderes Beispiel: Im Namen des walisischen Mineralwasser-Herstellers Ty Nant kreierte Lovegrove eine asymmetrische, leicht zerknautscht wirkende Wasserflasche aus Polyester. Die absichtlichen „Dellen“ bewirken, dass das Objekt optimal in der Hand liegt, den flüssigen Inhalt hervorhebt und Mineralwasser zu einer Art Prestigegetränk macht. Schon bejubelt die Fangemeinde die neue Form als „Coke-Flasche des 21. Jahrhunderts“.

Um für seine Produktschöpfungen auch immer die nötige Kraft aufzubringen, zieht sich der Designer jedes Jahr nach Thailand zurück. Dort versenkt er sich in Yoga-Übungen, ernährt sich von Wasser, Reis und Fisch und freut sich, wenn er danach „den Körper eines 20- Jährigen“ hat. Von regelmäßigen Fitnessübungen oder Golf hält Lovegrove nichts: „Dafür habe ich keine Zeit. Ich bin ein Working-Class-Boy, der hart für seinen Traum gearbeitet hat. Ich weiß Dinge, die man mir anbietet, zu schätzen und genieße sie sehr.“

Das gilt umso mehr für Annehmlichkeiten, die er selbst entworfen hat. Die Sessel in der ersten Klasse der Japan Airlines beispielsweise, in denen man über den Wolken so herrlich zu Madonnas Musik wippen kann. Und sanft entschlummern natürlich.