 |
Text ERIKA THIMEL
Fotos CLAUS UHLENDORF
erschienen in PREMIUM
(int. Kundenmagazin von Jaguar,
Aston Martin, Land Rover und Volvo) |
|
 |
VOLLENDETE TATSACHEN
Wenn Ross Lovegrove etwas nicht mag, sind es gerade Linien. Das Vorbild des britischen
Produktdesigners ist die Natur. Mit avantgardistischen Entwürfen stimuliert er nicht nur
die Sinne seiner Kunden. Auf den unverwechselbaren Stil des heimlichen Stars der Design-Szene trifft man über den Wolken genauso wie bei den Gütern des täglichen Bedarfs.
Fast überall das gleiche Bild: leicht geöffnete
Lippen, entspannte Gesichtszüge,
geschlossene Augen. Die Passagiere, die
mit Japan Airlines erster Klasse von London
nach Tokio fliegen, haben sich in ihre Sessel
geschmiegt und schlafen, schließlich ist es mitten
in der Nacht. Doch einen ficht das nicht an.
Ross Lovegrove, gefeierter Produktdesigner
aus Großbritannien, lässt sich weder von seinem
Biorhythmus übermannen noch von den
organisch geformten Sitzen, von denen es
heißt, sie seien die bequemsten der Welt.
Lovegrove hat Kopfhörer auf und lauscht der
Musik von Madonna. Erst beginnt sein Kopf
zu wippen, dann fangen die Schultern an zu
kreisen, irgendwann ist der ganze Körper in
Bewegung. „Nothing takes the past away like
the future“, singt Madonna, wie Lovegrove am
gleichen Tag vor 44 Jahren geboren. Die Textpassage
gefällt dem gebürtigen Waliser, er holt
eine braune Kladde hervor, die ihm als Tagebuch
und Skizzensammlung dient und notiert
den Satz der Popsängerin: „…like the future“.
Zwischen dem ledernen Einband nimmt die
Zukunft ihren Lauf. Vom Haus übers Auto bis
hin zum Besteck markieren farbige Striche
neue Produktideen, die – frei von Ecken und
Kanten – aufs Wesentliche reduziert sind. „Fettfreies
Design“ nennt der Herausgeber des
Internationalen Design-Jahrbuchs 2002/2003
das, wofür ihn Unternehmen wie Apple, Tag
Heuer, Philips, Mazda oder Olympus schätzen
und was Museen in New York, Paris und London
ständig ausstellen.
Der Sohn eines Marineoffiziers kann mit geraden
Linien nichts anfangen. Stattdessen
schwört er auf schwungvolle Bögen und organische
Formen. Sie sollen optisch mit ihrer
Umgebung verschmelzen, um wie ein Teil der
Evolution zu wirken. „Mein Vorbild ist die Natur
und ihre Symbiosen“, sagt Lovegrove. Seine
Entwürfe lassen sich auf die Formel „Struktur
plus Schönheit“ bringen. Zum Minimalisten
macht ihn das noch lange nicht, wohl aber
zum Perfektionisten: sich selbst und seinen
Mitarbeitern gegenüber, denen er in seinem
Londoner „Studio X“ intelligenten Materialeinsatz
und perfekte Strukturen einbläut.
Auf diese Säulen baut auch Lovegroves neue
Studiotreppe auf, die eine Wirbelsäule zum
Vorbild hat und damit dem Werk des spanischen
Architektur-Genies Antonio Gaudí
ähnelt. „Aus einer absoluten Verbundenheit
mit dem eigenen Kern und der Umwelt entsteht
Schönheit.“ Das gelte für Produkte und
Menschen. Lovegrove bezeichnet sich als spirituellen
Designer. „Die Welt wird sich verbessern.
Unsere Produkte, unsere Luft, unsere
Politik. Wir leben in einem Zeitalter, in dem
sich mit Vernunft mehr Geld verdienen lässt
als mit Dummheit.“ Dazu wolle er beitragen.
Der Designer träumt davon, ein ökologisches
Auto zu entwickeln, das sich in die Architektur
einer Stadt fügt. „Das Auto braucht einen
radikal neuen Denkansatz“, fordert er und denkt
dabei an ein umweltfreundliches, motorisiertes und transparentes Ei. Lovegrove outet sich
gleichzeitig als leidenschaftlicher Aston-Martin-Liebhaber. „Ich wollte schon immer einen
DB5 aus den sechziger Jahren haben, silbern
und mit Ledersitzen . . .“ Er stockt und fügt
dann lächelnd hinzu: „ . . . aber mit einem umweltschonenden
Wasserstoffmotor.“ Ein japanischer
Journalist habe ihn daraufhin gefragt:
„Und wo bleibt der unvergleichliche Sound des
Aston Martin?“ Lovegrove entgegnete: „Das
Geräusch können Sie auf CD haben, wenn Sie
Frauen beeindrucken wollen.“ Lovegrove hat
derlei Imponiergehabe nicht nötig. Bei ihm
reicht ein Fahrrad, um andere in Wallung zu
bringen. So geschehen bei einem Modell aus
Metall und Bambus, das er für Biomega entworfen
hat. Der Modestar Kenzo war hin und
weg von dem Gefährt und lud Lovegrove zum
Dinner in seine Pariser Stadtresidenz, deren
Einrichtung komplett aus Bambus ist.
Bei der Umsetzung seiner umweltfreundlichen
Luxus-Visionen greift Lovegrove auf ein
umfangreiches Know-how zurück. Bereits
während der Ausbildung am Manchester Polytechnikum
erwarb er sich den Ruf eines Maniacs.
Morgens kam er als Erster, abends ging
er als Letzter. So hielt er es auch während der
Lehrzeit am Royal College of Art in London.
Dort fiel dann der Entschluss zu einer Karriere
als Industriedesigner. Sein erstes Designerstück,
eine Windmühle, entwarf er mit 16.
Heute ist er weltweit tätig. „Ich verbringe
mein Leben in Flugzeugen und ich liebe es,
Flugzeuge zu gestalten“, erzählt der Formenkünstler.
Erst kürzlich hielt er auf Einladung
von Airbus einen Vortrag. Auf dem Weg zurück
zum Flughafen verfolgte ihn ein Manager,
der seine Visitenkarte loswerden wollte.
Ohne Erfolg, Ross war in Eile. „Er kommt wieder
auf mich zu“, weiß der Designer.
Einer wie er ruft nicht, er wird gerufen. Existenzängste
sind ihm fremd. Selbst in seinen
Anfangsjahren, als er noch in einem rostigen
Fiat durch Paris kreuzte und in einem Zimmer
in Bahnhofsnähe schlief, trieb ihn die Zuversicht.
Er sprach zwar kein Wort Französisch
und hatte einen gutbezahlten Job bei Frog
Design aufgegeben, aber er behielt den Glauben
an sich und seine Arbeit. „Ich stecke immer
meine ganze Energie in die Dinge, die ich
tue und versuche dabei, die Grenzen des Möglichen
zu durchbrechen.“ Aufträge, die ihn
nicht herausfordern, lehnt er ab. „Ich entwerfe
nur etwas, wenn ich eine Idee habe, die mir
gefällt. Aus diesem Grund bin ich berühmt geworden
und die Menschen lieben mich.“
Selbst die Kinder. Die Spielkameraden seines
zehnjährigen Sohnes kommen gerne ins
Haus im Londoner Stadtteil Notting Hill, wo
Flugzeugmodelle, bunte Formen und afrikanische
Kunst das Ambiente bestimmen. „Oh,
Mr. Lovegrove“, fragen die Kleinen, „können
wir ein Auto entwerfen?“ „Was wollt ihr?“ fragt
der Hausherr zurück. „Na, zum Beispiel ein
Auto mit nur einem Reifen!“ Der Designer
zückt den Stift und zeigt: Papier ist geduldig.
Da ist es wieder, das ledergebundene Skizzenbuch,
das er immer griffbereit hat. Denn
Lovegrove fühlt sich nirgendwo verwurzelt.
„Meine Wurzeln sind in der Luft.“ Ihr Nährboden
ist das Papier. Es hält fest, was die Ideenfabrik
hinter Lovegroves Stirn produziert.
Nicht selten füllen sich die Seiten zwischen den
Buchdeckeln auch mit Gedichten.
Welche Situation oder Begegnung zuletzt den
Puls der Poesie in seinem Herzen beschleunigt
hat? „Das erzähle ich nicht, nicht einmal meiner
Frau.“ Und mit ihr, der polnischen Architektin
Miska Miller, ist er seit bald 15 Jahren
verheiratet. „Sie denkt in geraden Linien, ich
nicht. Wir streiten uns deshalb oft schrecklich“,
sagt er und lacht. Seine Frau sitzt in der Nähe
und lacht mit. „Sie hat diese großartige weibliche
Intuition“, schwärmt Lovegrove. Auf der
Mailänder Möbelmesse feierten sie in diesem
Jahr gemeinsam seine Erfolge.
Gibt es auch etwas, über das er sich ärgert?
„Alexander McQueen verdient ein paar Millionen
Pfund im Jahr, um Mode zu entwerfen,
die niemand tragen kann“, sagt Lovegrove.
Man solle ihn bitte nicht missverstehen:
„McQueen ist genial. Ich liebe seine Arbeit,
aber wenn sie mir so viel Geld geben würden,
könnte ich fantastische Dinge entwerfen.“ Es
gehe schließlich darum zu geben, zu teilen und
anderen Menschen zu helfen, sagt Lovegrove
und: „Es geht um Fürsorge und um Liebe.“
Auch um Detailliebe.
Für die Schweizer Uhrenfirma
Tag Heuer entwarf er eine Kollektion
Sportbrillen. Um die perfekte Passform zu erzielen,
brachte Lovegrove allein sechs Monate
mit dem Studium der unterschiedlichen Physiognomien
zu, schließlich soll sich die Brille in
172 Ländern verkaufen. Nach drei Jahren war
das Projekt vollendet. Die Modelle strotzen nur
so vor raffinierten Details und wurden im vergangenen
Jahr mit Gold prämiert.
Ein anderes Beispiel: Im Namen des walisischen
Mineralwasser-Herstellers Ty Nant
kreierte Lovegrove eine asymmetrische, leicht
zerknautscht wirkende Wasserflasche aus
Polyester. Die absichtlichen „Dellen“ bewirken,
dass das Objekt optimal in der Hand liegt,
den flüssigen Inhalt hervorhebt und Mineralwasser
zu einer Art Prestigegetränk macht.
Schon bejubelt die Fangemeinde die neue Form
als „Coke-Flasche des 21. Jahrhunderts“.
Um für seine Produktschöpfungen auch immer
die nötige Kraft aufzubringen, zieht sich
der Designer jedes Jahr nach Thailand zurück.
Dort versenkt er sich in Yoga-Übungen, ernährt
sich von Wasser, Reis und Fisch und freut
sich, wenn er danach „den Körper eines 20-
Jährigen“ hat. Von regelmäßigen Fitnessübungen
oder Golf hält Lovegrove nichts: „Dafür
habe ich keine Zeit. Ich bin ein Working-Class-Boy, der hart für seinen Traum gearbeitet
hat. Ich weiß Dinge, die man mir anbietet,
zu schätzen und genieße sie sehr.“
Das gilt umso mehr für Annehmlichkeiten,
die er selbst entworfen hat. Die Sessel in der
ersten Klasse der Japan Airlines beispielsweise,
in denen man über den Wolken so herrlich zu
Madonnas Musik wippen kann. Und sanft entschlummern
natürlich. |
|